Ein Appell für Selbstachtung in Corona-Zeiten

Lesedauer 5 Minuten

Stand: 1. März, 2021

Dieser Artikel als Podcast (Audio-Beitrag)

Hinweis: Inzwischen habe ich einige Anfragen erhalten, wie man durch Selbstachtung durch die Krise navigieren kann. Du kannst dich unter david@demokratieliebe.de an mich wenden, damit wir einen Gesprächstermin vereinbaren.

Funktionieren müssen

Warum es wichtig ist, die eigenen Grenzen zu erkennen und zu verteidigen, gerade zu Corona-Zeiten.

Das Video einer Polizeikontrolle von Martin Gerloff durch zwei Polizisten hat inzwischen über 1 Millionen Aufrufe auf YouTube[1]https://youtu.be/hfIR0ddNct4. Gerloff weigert sich darin, den triftigen Grund für seinen spätabendlichen Ausgang zu nennen. In einer hitzigen Diskussion appelliert er an die Polizisten, die Sinnhaftigkeit und Verhältnismäßigkeit der Corona-Verordnungen zu hinterfragen, mit Erfolg: Einer der Polizeibeamten gibt zu, dass er auf Anordnung auch in Unterhose zum Dienst kommen würde.

Für seine Aktion erhält er viel Zuspruch, aber auch Vorwürfe[2]https://youtu.be/n8p3cSlXpHw. Warum er denn nicht einfach mitgemacht, seinen triftigen Grund für das Verlassen der Wohnung genannt habe, womit die Angelegenheit schnell erledigt gewesen wäre, wird er gefragt.

Es ist ein Vorwurf einer Art, welche in dieser Zeit häufig zu hören ist:

Es ist doch nur eine Maske!

Es sind doch nur zwei Wochen (…zwei Monate, ein Jahr)!

Es ist doch nur ein kleiner Piks

Es ist doch nur, um unser aller Gesundheit zu schützen!

Wenn es nur um dieses und jenes geht, liegt aber die Frage auf der Hand:

Wo liegt die persönliche Grenze des Erträglichen?

Wie aus dem Nichts

Ich möchte zwei Geschichte erzählen, um das Gewicht der Frage nach den persönlichen Grenzen zu erörtern:

(1) Ein Paar streitet sich heftig, die Fetzen fliegen, Tränen kullern. Der Ton wird rauer, die Situation wird für die Frau zunehmend beklemmender. Sie fürchtet, ihr Partner könnte seine physische Überlegenheit ausspielen. Schneller als befürchtet ist es passiert: Er umklammert ihren Arm und packt zu. Trotz der Bedrohung schweigt sie in der Hoffnung auf Deeskalation. Vergebens: Während sie ihn ungläubig anschaut, schlägt seine Hand auf ihrer Wange auf.

Wo lag die persönliche Grenze?

(2) Kurz nachdem Herr Kugel die Wohnung im Erdgeschoss des Mehrfamilienhauses bezogen hat, weist ihn seine neue Nachbarin Frau Spitz auf eine ungeschriebene Regel hin: Die zwei Stellplätze direkt vor dem Hauseingang seien für die alteingesessenen Mieter reserviert, er möge seinen PKW dort bitte nicht parken.

Weder die Vermieter hatten diese Regel erwähnt, noch steht sie im Mietvertrag. Von der Einweisung seiner Nachbarin überrumpelt, stimmt Herr Kugel zu. Doch in den folgenden Wochen nagt seine kleinlaute Reaktion an ihm, er ringt mit sich. Als Frau Spitz eines Sonntagvormittags weit über Zimmerlautstärke Musik hört, sieht er seine Chance zur Rechenschaft gekommen: Mit breiter Brust klagt er an ihrer Wohnungstür über die Lärmbelästigung. Irritiert von der Schärfe seines Tons zieht sich Frau Spitz wortlos in ihr Wohnzimmer zurück, wo sie die Musik leiser dreht.

Es dauert nur etwa ein, zwei Lieder, bis Herr Kugel die Musik wieder lautstark auf seinem Sofa vernimmt. In der Folge eskaliert der Nachbarschaftsstreit, die Sticheleien werden immer größer.

Wo begann die Grenzüberschreitung?

Wieviel häusliche Gewalt ist geschehen, weil sich das Gewaltopfer im guten Glauben nicht früh genug gewehrt hat? Wieviele Nachbarschaftsstreite werden verbittert über Jahre geführt, weil man sich anfangs etwas hat Gefallen lassen, sich nicht über jede bzw. eine Kleinigkeit beschweren wollte?

Falsche Bescheidenheit

Um uns zu wehren, müssen wir nicht auf eine Grenzüberschreitung warten. Sobald wir uns bedroht fühlen, haben wir das Recht, auf unsere Grenzen aufmerksam zu machen.

Wir wollen höflich sein, den anderen nichts unterstellen und hoffen, dass alles Gut wird. Es geht aber nicht darum, dem anderen kein Unrecht zutun: Mitzuteilen, dass wir uns bedroht fühlen ist ein Ausdruck unserer inneren Befindlichkeit. Das ist unser Recht gegenüber anderen und eine Pflicht gegenüber uns selbst.

Wehren wir uns nicht, so können die Grenzen immer weiter und schneller eingerannt werden, bis wir die Orientierung verlieren. So könnten Polizeibeamte plötzlich in Unterhose zum Dienst antreten, obwohl diese Vorstellung vor zwei Wochen noch unmöglich war.

Meine Grenze ist nicht gleich deiner Grenze

Es gehört Mut dazu, öffentlich zu bekunden, dass die Maskenpflicht die eigenen Grenzen überschreitet. Das gilt insbesondere, wenn das für die Mehrheit nicht der Fall ist. Wer auf sich achtet, ist kein Egoist, sondern hat verstanden, dass durch Verdrängen Wut aufgebaut wird, die irgendwann ans Tageslicht kommt, meist in einer unerwartet aggressiven Weise.

Wer seinem Problem mit der Maskenpflicht Ausdruck verleiht, kann daraus kein Recht auf deren allgemeine Abschaffung ableiten. Was aber ist mit einem Recht darauf, gehört zu werden: Erlaubt mir eine freie, aufgeklärte und demokratische Gesellschaft den Ausdruck solcher Befindlichkeiten ohne Diffamierung und Ausgrenzung?

Solche Spannungen zu begrüßen, verlangt Empathie. Empathie bedeutet, uns mit Verständnis und Mitgefühl zu begegnen: Für einen Mitmenschen kann die Maske eine kaum zu ertragende Belastung sein, obwohl sie mir selbst beim Tragen noch nicht mal auffällt.

Grün-Gelb-Rot

In der Körperarbeit gibt es eine Methode, um Grenzwahrung für die Beteiligten erfahrbar zu machen. Dabei handelt es sich um ein Ampel-System. In einer Partnerübung arbeitet man dabei mit den drei Ampelfarben als Symbol für die momentane Befindlichkeit.

Grün signalisiert, dass das, was gerade passiert, sehr angenehm ist.

Sagt einer der Partner rot, sind die Grenzen eindeutig überschritten: Was auch immer gerade passiert, empfindet einer der beiden Partner als unangenehm und sollte sofort unterbrochen werden.

Gelb wiederum steht für Irritation, etwas am Verhalten des anderen stört, die Ampel könnte bald auf rot umschlagen.

Die gelbe Phase ist besonders wichtig, weil wir dazu neigen, erst bei rot aktiv zu werden. Durch den Einsatz dieses Ampel-Systems lernen wir aber, auf uns zu achten und früh genug eine Warnung zu geben. So kann eine unangenehme Situation wieder in eine angenehmere Richtung gelenkt werden, bevor jemand emotional verletzt wird.

Ampel auf rot
Ampel auf rot

Step by step

Gunnar Kaiser hat an verschiedenen Stellen die Frage gestellt: “Wann darf ich denn beginnen, von drohendem Totalitarismus zu sprechen?” Anders ausgedrückt: Wenn ein Dieb die Ziegelsteine nach und nach aus meiner Mauer entfernt, soll ich einen Diebstahl bei der Polizei erst dann melden, wenn der letzte Stein entnommen ist?

Im Verlauf des Jahres 2020 sind im Stile einer Salami-Taktik immer weitere und tiefere Einschränkungen der Grundrechte vorgenommen worden. Es ist also einerseits davon auszugehen, dass aus gelb jederzeit rot werden kann und anderseits, dass ohne die diversen Proteste und den demokratischen Widerstand insgesamt die Maßnahmen noch drastischer verschärft worden wären.

Wenn Maskenpflicht, indirekter Impfzwang oder Kontaktbeschränkungen für mich gelb bedeuten, ist es ganz wesentlich, diese drohende Grenzüberschreitung äußern zu dürfen.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Wer seine Grenzen wahrt, der achtet, liebt und respektiert sich selbst. Das ist die Voraussetzung, um anderen Menschen gleichermaßen aufgeschlossen und verständnisvoll zu begegnen. Beschwichtigende Empfehlungen wie “Stell dich nicht so an” (manch einer mag sich hier an Merkels Händeklatschen und Kniebeugen erinnert fühlen) zeugen hingegen von einer Persönlichkeit mit gering entwickeltem Selbstwertgefühl, die anderen nicht zugestehen kann, was sie sich selbst verweigert.

Martin Gerloff hat sehr konsequent sein persönliches gelb vertreten. Darüber hinaus hat er die Polizisten zur Hinterfragung ihrer persönlichen Grenzen inspiriert. Das können kleine Schritte in Richtung großer Veränderungen sein. Ein jeder von uns kann eine Quelle der Inspiration für andere sein, auch und insbesondere dadurch, sich selbst zu achten.

Schließen möchte ich mit einer Geschichte von Mahatma Ghandi:

Ghandi saß im Zug, der soeben vom Bahnhof losgefahren war. Ein Reporter, der vergeblich versucht hatte, ein Interview zu bekommen, lief ihm nach und bat ihn um eine Botschaft für das Volk. Statt eines klugen Ratschlages rief Ghandi ihm zu:

My life is my message!

Mahatma Gandhi

https://www.flickr.com/photos/55638925@N00/255569844/

Quellen und Anmerkungen

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